Unzucht überall

Der European Song Contest wird aus professioneller Sicht gerne als Dummie-Event abgetan, wobei vor allem über trostlose musikalische Einfälle und peinliche Bühnenauftritte gelästert wird. Oft zu Recht, aber eben nicht immer. Beispielsweise sind die Beiträge aus Mittel- und Osteuropa, aus der Türkei und aus den Kaukasusländern immer besonders anregend. Ihre durchschlagende Vitalität wirkt weder inszeniert, noch wird sie durch ideologisches Brimborium gebremst. Es geht ganz direkt zur Sache, und das hat vermutlich mit der noch immer lebendigen Volksmusikpraxis in diesen Ländern zu tun, die hier durchschimmert.

Zweifellos gibt es auch dort ein profitgieriges Umfeld, aber der Betrieb ist noch nicht so durchkapitalisiert wie in den westeuropäischen Metropolen und der Produktionsapparat noch näher an den Musikern, was der Spontaneität gut bekommt. Die technisch hochgerüsteten, sterilen Produktionen aus den westlichen Studios enden dagegen häufig als teure Rohrkrepierer. Die Unterhaltungsgroßmächte England, Deutschland und Italien landeten nun wieder einmal im unteren Drittel, noch hinter Weißrussland; das Schlusslicht bildete Frankreich mit 2 Punkten. Ein Lichtblick war die Gruppe aus den Niederlanden, die mit ihrem entspannten, von einem gleichbleibenden rhythmischen Muster unterlegten Gesang Platz zwei erreichte.

Das alles wurde aber weggewischt vom österreichischen Beitrag, der mit 290 Punkten einsame Spitze war. Über Tom Neuwirth alias Conchita Wurst, der so problemlos abräumte, ist viel gelästert, gejubelt und spekuliert worden. Er hat das Publikum entzweit wie kaum jemand zuvor. Doch gerade das war Zweck des Beitrags und Ursache des Erfolgs.

Ein einfaches, im Zeitalter der medialen Hypes aber todsicheres Rezept: Man nehme ein kontrovers diskutierte Thema und überspitze die Aussage, indem man identifikationsgeladene Symbole konflikthaft zusammenmontiert. Die Symbole in diesem Fall: ein männlicher Bart und ein weibliches Outfit. Und fertig ist die Provokation im Fernsehen, entsprechend riesig die Aufmerksamkeit. Das Marketing-Konzept hat perfekt funktioniert, und wie es geht, weiß man seit Dada und den Surrealisten. René Clairs Film „Entr’acte“ zum Beispiel provoziert ganz gezielt mit solchen Unvereinbarkeiten in der Bildsymbolik.

Es scheint, dass sich der Sieg dieses Beitrags durchaus unterschiedlichen Publikumsinteressen verdankt. Einerseits, naheliegend, der homosexuellen Community, die in der Show- und Medienbranche traditionell stark verankert ist und vor und hinter den Kulissen tüchtig für ihren Mann geworben hat. Doch die rührige Truppe hätte eine derartige Mehrheit nie und nimmer allein zustande gebracht. Der Großteil der Stimmen stammt zweifellos von jenen Millionen Normalos, die es stets lustig und ein bisschen kribbelig finden, wenn sich ein Mann ein verrücktes Frauenkleid überzieht und auf Stöckelschuhen herumstolpert. Dem Normalbürger macht die symbolische Abweichung von der Norm Spaß, denn er fühlt sich durch sie bestätigt.

Neu ist das nicht. Dass die Verfremdung der Geschlechter einen ästhetischen Reiz hat, wusste schon das Publikum der Barockoper. Von der mit einer Bassstimme ausgestatteten komischen Alten über die Geschlechterambiguität der Kastraten in der Opera seria bis zur Türkenbab in „The Rake’s Progress“ zieht sich eine lange Spur des Vergnügens an diesen Dingen.

Das waren indes Reize für den feineren Geschmack. Im Fernsehzeitalter ist es der Spießerhumor, der befriedigt wird, auch wenn die Travestie im Glitzermodus daherkommt. Ein Humor, den schon in den fünfziger Jahren ein Heinz Rühmann in „Charlie’s Tante“ wachkitzelte, indem er sich eine Perücke aufsetzte und zwei Äpfel unter die Bluse schob. Heute wird er in der Massenunterhaltung bis zum Umfallen gepflegt, wenn auch auf weniger plumpe Art.

Dass der Song, den Wurst übrigens sehr gekonnt vortrug, beim Millionenpublikum derartig einschlug, werteten emanzipationsbewusste Gender-Strategen als Fortschritt und politisch obendrein – ein bisschen Pussy Riot zur Bestrafung Putins. Fürs breite Publikum war es ein voyeuristischer Spaß an dem, was anders ist; der normale Medienkarneval eben, nur noch verstärkt durch millionenfache Mitmach-Likes. Die wirklichen Gewinner waren indes die Macher hinter den Kulissen. Die kämpferische Siegerpose von Wursts Manager, der den schluchzenden Sänger wie eine erlegte Beute zur Siegerehrung auf die Bühne zerrte, sprach Bände.

Die Illusionen werden auch durch die Klicks in YouTube etwas gedämpft. Der Österreicher erreichte zwar eine Woche nach dem Event die für einen ESC-Sieger standesgemäße Zahl von 11,5 Millionen. Doch kein Vergleich mit dem von den Wurst-Apologeten als sexistisch niedergeschriebenen Beitrag „My słowianie“ aus Polen; dieses Video wurde – allerdings mit einem längeren Vorlauf – schon 43,6 Millionen mal angeklickt. Das fröhlich-parodistische Hohelied auf die Fruchtbarkeit der schönen Slawinnen ist vielleicht kein Spaß für Prüde, aber bestimmt hätte der „Santo subito“-Papst beifällig dazu genickt. Auch eine Form von Politik. Und wer es genauer wissen möchte, bitte sehr: http://youtu.be/rr1DSgjhRqE.

Max Nyffeler

Juni 2014

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