„Was für eine große, geheimnisvolle Sache ist doch die Musik.“ Einer der schönsten Sätze, die in unserer aufklärungssüchtigen Zeit über diese unendlich wandlungsfähige, flüchtige und letztlich ungreifbare Kunstform geschrieben worden sind. Zu finden ist er in einem Text von Hans Zender über den Dirigierstil von Sergiu Celibidache. Nach beschreibenden Abschnitten, in denen sich Bewunderung und Distanzierung paradox mischen, vergleicht Zender die Magie von Celibidaches Bruckner-Interpretation mit der jugendlich-frischen Auffassung von Günter Wand und stellt dann fest, das Wunderbare sei doch, dass beide Extreme nebeneinander möglich seien: „Welcher Reichtum an Farben und Ideen schlummert schon in einer einzigen Partitur – und wie viele Partituren schlummern noch in den Köpfen der Komponisten…“
Die Bemerkung ist charakteristisch für einen Musiker, der stets darauf bedacht war, die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen und im weitesten Sinn Verschiedenen zu denken und das auch auf überzeugende Weise in die künstlerische Praxis umgesetzt hat. Wobei Gleichzeitigkeit nicht nivellierende Synthese bedeutet – das Verschiedene bleibt in seiner Verschiedenheit erhalten und tritt in eine fruchtbare Wechselbeziehung zueinander.
Hans Zender spricht, in Anlehnung an Heraklits Satz vom auseinandergezogenen Bogen, der mit sich selbst zusammengezogen wird, von „gegenstrebiger Fügung“. Er sieht darin eine Metapher für das Geheimnis aller Lebensprozesse und insbesondere der Musik, die als prozesshafte, in der Zeit sich entfaltende Form diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen zur Darstellung bringt und sinnhaft verkörpert. Prozess und Struktur, Klang und Notenschrift, Jetztzeit und Erinnerung, System und Anarchie, Musik und Sprache, Denken und Fühlen, Hören und Sehen… Zenders musikalisches Weltbild ist reich an solchen dualistischen Begriffspaaren, und seine Werke sind der Resonanzraum dieses Denkens.
Dirigent und Komponist
Ein anderes Begriffspaar beschreibt auch ganz direkt seine künstlerische Biografie: Dirigieren und Komponieren. Die beiden Tätigkeiten verlaufen bei ihm einmal gleichzeitig, einmal nacheinander, doch sie stehen stets in einer starken Wechselwirkung zueinander. Nach dem Studium in Klavier und Dirigieren und kurzem Kompositionsunterricht bei Wolfgang Fortner in Freiburg verlegt sich der Berufseinsteiger zunächst aufs Dirigieren. 1964, mit achtundzwanzig Jahren, wird er Chefdirigent der Oper Bonn, dann der Reihe nach Generalmusikdirektor in Kiel, Chefdirigent beim Saarländischen Rundfunk, Generalmusikdirektor an der Hamburger Staatsoper und Chefdirigent des Radiokammerorchesters Hilversum.
Während all dieser Jahre schafft er es, die Zeit so einzuteilen, dass er immer wieder zum Komponieren kommt: in den Ferien, bei längeren Lücken im Terminkalender, in Auszeiten bis zu einem Jahr beim Stellenwechsel. 1990 ist mit den festen Dirigierverpflichtungen erst einmal Schluss, und nun rückt für ein Jahrzehnt der Kompositionsunterricht an der Frankfurter Musikhochschule und mit ihm auch das eigene Komponieren in den Mittelpunkt. Ab 1999 – es ist die Zeit des Triumvirats Cambreling/Zender/Gielen – ist er nochmals als ständiger Gastdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg aktiv.
„Ich dirigiere eigentlich wahnsinnig gern“, sagt Hans Zender und deutet damit an, dass er sich nicht nur als dirigierender Komponist versteht, sondern beide Aktivitäten als gleichwertig betrachtet. In einem „imaginären Interview“ (mit sich selbst) nannte er 1975 „Mozart und Wagner, dann Schumann, Debussy, Mahler“ als seine Favoriten und fügte hinzu: „Auch arbeite ich viel und mit aufrichtiger Hingabe für lebende Komponisten.“ Dirigieren bedeutet für ihn Extraversion, während der Gegenpol, das Komponieren, die konzentrierteste Form der Introversion, eine „Klärung des inneren Ohrs“, darstellt.
Zender und das pluralistische Denken von B. A. Zimmermann
Auf das Konto des Dirigenten Hans Zender gehen unzählige Uraufführungen der letzten Jahrzehnte. Die Pflege des zeitgenössischen Repertoires war ihm aber nicht weniger wichtig. Große Verehrung zeigt er bis heute für Bernd Alois Zimmermann, mit dem er während einem Studienaufenthalt in der Villa Massimo in Rom enge Kontakte pflegte. Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ hat er mehrfach dirigiert und kennt sie bis ins Innerste. Und das bedeutet bei ihm mehr als eine bloße formale Analyse dessen, was auf dem Papier steht. In Zimmermanns Synthese von Serialismus und historischem Denken sieht er eine geradezu herkulische Anstrengung, „Innenseite und Außenseite, expressive Bildhaftigkeit und perfekt durchkonstruierte Form“ noch einmal – oder wieder – zusammenzubringen.
Dieses Bestreben gilt auch für Zender selbst, und auch Zimmermanns Idee eines „pluralistischen Klangs“, die Collage von Zitaten unterschiedlichster stilistischer Herkunft, hat sein Denken stark geprägt. Das Montageverfahren in der 1986 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Stephen Climax“, nach Texten und Motiven aus dem Leben des antiken Säulenheiligen Simeon und aus „Ulysses“ von James Joyce ist ein spätes Echo davon; hier überlagern und durchdringen sich die beiden Inhaltsebenen auf komplexe Weise.
Das Denken in mehreren Schichten oder Entwicklungssträngen zeigt sich nicht nur bei solchen technischen Verfahren im Einzelwerk, sondern es prägt die künstlerischen Auffassungen von Hans Zender insgesamt. „Ich empfinde mein Inneres als ein Gebäude mit vielen Stockwerken“, sagt er, „und jedes von ihnen möchte sich in der Komposition artikulieren.“ Ein Komponist könne heute nicht mehr wie früher einfach einen Personalstil schreiben in der Annahme, dass er damit sein Ich und seine Zeit unmittelbar ausdrücken könne. Die pluralistische Gegenwart verlange vielmehr, dass er diesen Pluralismus in der geistigen Sphäre auf irgendeine Weise abbilde: „Ich habe den starken Drang, mich in verschiedenen musikalischen Sprachen auszudrücken – sowohl in einer sehr stark von der europäischen Tradition herkommenden Denkweise als auch in utopisch neuartigen Denkweisen.“
Die Tradition neu lesen
Der europäische Traditionsbezug zeigt sich in Zenders Werk auf vielfältige Weise. Dazu gehören etwa die vier Versionen von „Hölderlin lesen“ für Sprechstimme und Instrumente (1979-2000), in denen die fragmentarische Sprache des späten Hölderlin auf immer wieder neue Weise zur Musik in Beziehung gesetzt wird, oder die Instrumentierung von Schuberts „Winterreise“ (1993), die in die Tiefenschichten dieses Liederzyklus eindringt und von Hans Zender zutreffend eine „komponierte Interpretation“ genannt wird (die Instrumentierung von Schubert-Chören aus dem Jahr 1986 ist eine Art Vorstudie dazu). Weiter gehört zu dieser Traditionslinie die „Schumann-Fantasie“ (1997), in der Zender die Fantasie op. 17 für großes Orchester instrumentiert und den drei Sätzen je eine Einleitung als Kommentar vorangestellt hat, gespielt von zwei entfernt aufgestellten Ensembles. Das jüngste Beispiel in dieser Werkreihe ist die überaus packende Instrumentierung von Beethovens „Diabelli-Variationen“ für Ensemble.
Es ist klar, dass diese Bearbeitungen von großen Werken aus Klassik und Romantik mehr sind als bloße instrumentale Einkleidungen der Klavierversionen, nämlich eine schöpferische Relektüre, die die alten Meisterwerke neu beleuchtet – aus heutiger Perspektive und mit dem Blick eines Komponisten, der tief in das Denken und die Gefühlswelt der damaligen Zeit einzudringen versteht und sie dadurch für uns neu erlebbar macht.
Japan, Zen und ein anderer Zeitbegriff
Die andere Seite von Hans Zenders „mehrsprachigem“ Komponieren – diejenige, die er die „utopisch neuartige“ nennt – teilt sich wiederum in mehrere Entwicklungsstränge auf, zwischen denen jedoch untergründige Querbeziehungen bestehen. Da gibt es einerseits seine Hinwendung zu ostasiatischen Musikkulturen, speziell der japanischen. Die lange Reihe dieser Werke beginnt 1975 mit „Muji No Kyô“ für Stimme und Instrumente über einen alten japanischen Text. Das Stück reflektiert mit seinen Bildern der Stille und Einfachheit die Eindrücke, die Zender auf seiner ersten Japanreise erhalten hatte. Es folgen die Reihe der sieben unterschiedlich besetzten „Lo Shu“-Kompositionen, die sich über zwanzig Jahre bis 1997 erstreckt – reduktive Modelle einer konzentrierten Zeiterfahrung, benannt nach der chinesischen Bezeichnung für das in neun Felder unterteilte Quadrat –, die fünf „Kalligraphien“ für Orchester (1997-2003) und anderes mehr.
Diese asiatisch beeinflussten Kompositionen sind kein wohlfeiler Exotismus, sondern der Versuch, in eine fremde Kultur immer tiefer einzudringen und sie von innen heraus zu verstehen. Hans Zender sieht in Asien den größtmöglichen Kontrast zur eigenen Kultur verkörpert, und er folgert: „Wir können am meisten von unserem Gegenpol lernen; schaffen wir es, die Essenz dieser Riesenkulturen zu integrieren, ohne uns aufzugeben oder in Schizophrenie zu verfallen, so können wir neue Dimensionen entdecken.“
Den Schlüssel zu den fremden Kulturen fand Zender in der Zen-Philosophie – und in der Begegnung mit den „Sept Haikai“ von Olivier Messiaen. An ihnen und überhaupt an Messiaens Schaffen bewundert Zender die Autonomie der verschiedenen Zeitgestalten, die sich asymmetrisch zueinander verhalten und überlagern. Er sieht darin, ähnlich wie bei Cage oder Scelsi, ein perspektivenreiches Gegenmodell zum geschlossenen eindimensionalen Denken, das für den Mainstream der Nachkriegsavantgarde charakteristisch ist.
Haydn und die Mikrotonalität
Die Beschäftigung mit asiatischen Musikpraktiken führte Hans Zender fast zwangsläufig zur Mikrotonalität. Sie ist für ihn heute das Gebiet mit dem größten musikalischen Zukunftspotenzial. In groß dimensionierten Werken wie dem über zweistündigen Oratorium „Shir Hashirim – Lied der Lieder“ (1995-97) oder den „Logos-Fragmenten“ (2006-07) nach Bibeltexten hat er deren Möglichkeiten nach allen Seiten erforscht. Es sind bedeutende Schritte auf dem Weg in eine neue, von den alten diatonischen Resten gereinigte Harmonik.
Mit welchem Raffinement Zender das bewerkstelligt, zeigt sich in der Komposition „O bosques“ für Sopran, gemischten Chor und kleines Orchester, die 2011 in München uraufgeführt wurde und auf einem Strophengedicht von Juan de la Cruz beruht; es ist bereits das dritte Stück über Texte des spanischen Mystikers. Zender schlägt hier eine Brücke zwischen harmonischen und rhythmisch-metrischen Proportionen, die wiederum von der Textstruktur abgeleitet sind: Die fünf Zeilen jeder Strophe bestehen abwechselnd aus sieben und elf Silben, und in der Harmonik des Stücks spielen der fünfte, siebte und elfte Oberton eine zentrale Rolle.
Die Geschichte mit der Obertonharmonik – die sich übrigens von den mehr statischen Verfahren der französischen Spektralisten grundsätzlich unterscheidet – hat eine Pointe, und die besteht darin, dass Zender auf diese Möglichkeiten durch seine Dirigate von Werken der Klassiker kam. In der ersten Sinfonie Beethovens, die mit einer Folge von Septakkorden beginnt, geraten temperierte Akkorde und natürliche Obertöne der Bläser in einen unlösbaren Konflikt miteinander, was fortlaufende Korrekturen der Intonation im Mikrobereich erfordert. Dasselbe geschieht bei den terz- und sextlastigen Werken von Haydn oder Mozart: Wenn hier die Terzen rein gespielt werden, gerät das ganze harmonische Gefüge im Orchester durcheinander.
„Immer wenn ich Haydn und Mozart dirigierte, musste ich endlose Intonationsproben machen“, erinnert sich Zender. Die Erfahrungen brachten ihn dazu, an neuen harmonischen Systemen zu arbeiten, in denen diese mikrotonalen Differenzen nicht mehr als Störungen, sondern als konstitutiver Teil fungieren. Der 1982 in Donaueschingen uraufgeführte „Dialog mit Haydn“ für zwei Klaviere und drei Orchestergruppen ist das erste Werk, in dem er das ausprobierte.
Dirigieren und Komponieren, die Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungsstränge mit dem Nebeneinander von zeitgenössischer europäischer Musiksprache und Neulektüre der Tradition, von Öffnung nach Fernost und Konstruktion neuer harmonischer Systeme und – nicht zu vergessen – einem umfangreichen musikliterarischen Schaffen, in dem sich ein weiter Bildungshorizont spiegelt: Wenn man all diese verzweigten Aktivitäten Hans Zenders auf einen Nenner bringen wollte, so ließe sich dazu am ehesten der Begriff der Schaffenspolyphonie benutzen. Ein genuin musikalischer Terminus. Er bezeichnet die strömende Vielfalt von Ereignissen, die ein organisches Ganzes bilden und sich doch nach einer eigenen inneren Logik entwickeln. Auch das ist eine gegenstrebige Fügung. Aus ihr spannt sich der Bogen, der ein imposantes Lebenswerk zusammenhält.
Max Nyffeler
Erstveröffentlichung: Programmbuch des Festivals Klangspuren Schwaz 2013