100 Jahre IGNM / ISCM

Die Gründungsmitglieder der IGNM 1922 in Salzburg
Die Gründungsmitglieder der IGNM am 11.8.1922 in Salzburg

Die IGNM, die Internationale Gesellschaft für Neue Musik, hat für die Verbreitung der im 20. Jahrhundert entstehenden Musik eine wichtige Rolle gespielt. 2022 ist sie hundert Jahre alt geworden – Zeit, einen Blick auf ihre Geschichte zu werfen und nach ihrer heutigen Bedeutung zu fragen.

Der Gründungsakt der IGNM fand am 11. August 1922 im Obergeschoss des Café Bazar in Salzburg statt. Teilnehmer waren Komponisten, darunter Paul Hindemith und Anton Webern, Musikfachleute sowie der Mäzen Werner Reinhart. Dazu die beiden Initiatoren: der Wiener Komponist und Musikwissenschaftler Egon Wellesz und Rudolf Réti, Komponist und Verlagsmitarbeiter bei der Wiener Universal Edition. Als einzige Frau war Ethel Smythe (Bild oben, Mitte) mit von der Partie.

Im Zentrum stand die Idee einer Selbsthilfeorganisation: Für die aktuell entstehende Musik, die bei dem noch auf spätromantische Klänge fixierten Publikum kein Gehör fanden, sollte eine dauerhafte, über alle Ländergrenzen hinweg verlässliche Lebensgrundlage geschaffen werden.

Die Bazar-Runde einigte sich schließlich auf die Gründung einer internationalen Vereinigung, in der Komponisten, Interpreten und Musikfachleute aller Art mitwirken konnten – ohne Rücksicht auf Staatsangehörigkeit oder auf die ethnische, religiöse oder politische Ausrichtung. Damit war die Internationale Gesellschaft für Neue Musik respektive International Society of Contemporary Music, kurz IGNM oder ISCM genannt, geboren. Es war eine visionäre Entscheidung. Auf den Zivilisationsbruch des Ersten Weltkrieg antwortete man mit einem Bekenntnis zum Internationalismus und Pluralismus und sprach von einem „musikalischen Völkerbund friedlicher Zusammenarbeit“.

Die demokratische Organisationsform hat in ihren Grundzügen bis heute Bestand. In jedem Land können sich lokale Sektionen konstituieren, die innerhalb der allgemeinen Statuten ihre eigene Veranstalterpolitik betreiben und Konzerte durchführen können. Auch können sie sogenannte Weltmusikfeste – heute Weltmusiktage genannt – organisieren, bei denen Werke aus allen Mitgliedsländern erklingen sollen.

Koordiniert wird das alles durch ein von den Ländervertretern gewähltes Präsidium, und die während der jährlichen Weltmusiktage stattfindende Generalversammlung beschließt über Grundsatzfragen und den Ort der nächsten Treffen. Die ersten fanden in Salzburg, Prag, Venedig, Zürich, Frankfurt, Siena und Genf statt. Diese offene Organisationsform ermöglichte es auch randständigen Nationen wie zum Beispiel Litauen, Anschluss an die internationale Entwicklung zu finden.

In den ersten elf Jahren ihrer Existenz trug die IGNM wesentlich bei zur Entstehung einer Öffentlichkeit für die vom breiten Publikum missachtete, mit dem pauschalen Kampfbegriff „atonal“ apostrophierte musikalische Moderne. Doch der idealistische Impuls, der anfänglich die Aktivitäten beflügelte, hielt auf Dauer der Realität nicht stand. 1933 kamen zudem die Nazis in Deutschland an die Macht. Die Weltmusikfeste fielen teilweise aus, zwei wurden in die USA verlegt. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Organisation trotz aller Schwierigkeiten überleben konnte. In seiner umfassenden Dokumentation der IGNM bezeichnet der Schweizer Musikwissenschaftler Anton Häfeli die erste Phase bis zum Krieg als besonders effizient und konstatiert nach 1945 eine Stagnation. Als Gründe nennt er unter anderem Verbürokratisierung und Intrigenwirtschaft; wichtige Entwicklungen seien deshalb an ihr vorbeigegangen.

Neue Musik: Streit um die Definitionshoheit

Bei aller berechtigten Kritik war die IGNM stets mehr als eine auf Aufführungszwecke ausgerichtete Organisation. Obwohl sie im Lauf der Jahre nur noch einen kleinen Teil der Aktivitäten auf dem Gebiet der musikalischen Moderne repräsentierte, bildete sie immer einen Kristallisationspunkt des Meinungsstreits über Sinn, Ziele und Methoden des aktuellen Komponierens. Und über allen Themen schwebte ständig die Grundfrage der sogenannt „neuen Musik“ (der Begriff war 1919 vom Musikkritiker Paul Bekker geprägt worden): Was heißt „Neu“?

Der Wurm steckte schon im mehrsprachigen Namen. Der Unterschied von „Neuer Musik“ (IGNM) und „Contemporary Music“ (ISCM) steht für ein Schisma, das bis heute nachwirkt, auch außerhalb der Vereinigung. Mit „neu“ verband sich im deutschsprachigen Bereich stets mehr oder weniger explizit ein auf den Fortschrittsbegriff gestützter Anspruch, der – nach Adorno – nicht gelten lässt, was „hinter den historischen Stand des Materials zurückfällt“. Er ist exklusiv. Das englische „contemporary“, zeitgenössisch, ist hingegen inklusiv und bezeichnet einfach die Musik, die heute komponiert wird. Idealismus gegen Pragmatismus: Entlang dieser Frontlinie entzündeten sich in der Vergangenheit vor allem in Deutschland immer wieder Diskussionen um so absurde Fragen wie richtiges und falsches Komponieren. Auch die IGNM war darin involviert, und zu einem Hort solcher Begriffsgefechte wurden nach 1945 die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik.

Keine Frage, dass sich im Zug der Postmoderne die englische Auffassung mehrheitlich durchgesetzt hat. Doch manche Veranstaltungen halten am tradierten Begriff des Neuen fest und demonstrieren das mit einer Parade von Uraufführungen. So etwa die Donaueschinger Musiktage, die sich als Uraufführungsfestival verstehen und daraus ein Markenzeichen gemacht haben. Angesichts des meist dürftigen Ertrags steht der Anspruch auf Relevanz aber auf tönernen Füßen und wird auf Dauer wohl nicht zu halten sein.

Inhaltlicher Wandel

Bei den großen Neue-Musik-Festivals zeichnet sich überdies ein grundlegender inhaltlicher Wandel ab, indem marketingbewusst auf die Hör- und Sehgewohnheiten des jüngeren, internetaffinen Publikums eingegangen wird. Wurden bei Gründung der IGNM noch Ideale wie Völkerverständigung, Freiheit und Toleranz verkündet, so tritt nun die Wahrnehmungssituation stärker in den Vordergrund. Das segmentierte Publikum wird mit den ihm vertrauten Sounds, mit hinreichend Spektakel und den gerade gängigen politischen Slogans bedient. Die einst gesellschaftstheoretisch untermauerten Ideen von Avantgarde und Fortschritt werden damit endgültig verwässert.

Komponiert wird heute für den Tag, zelebriert wird die Feier des Jetzt – Ausnahmen bestätigen die Regel. Das hat durchaus anregende und oft erhellende Züge, wirkt aber auch selbstreferenziell und vernächlässigt die mit Reflexion verbundenen Zeitdimensionen Vergangenheit und Zukunft. Unverkennbar ist dabei: Das genaue Hören, dessen Bedeutung für eine humane Existenz noch der späte Luigi Nono unerbittlich gefordert hat, verliert an Bedeutung. Der allgemeine, durch die Bildschirmwahrnehmung begünstigte Kulturwandel macht sich auch in der neuen Musik bemerkbar.

Der Megatrend: Eine unaufhaltsame Globalisierung

Der von der IGNM verfochtene, eurozentristisch definierte Begriff der neuen Musik hatte in der Gründungszeit seine Berechtigung, erwies sich aber zunehmend als problematisch. Richtig in Krise geriet er 1954, als John Cage erstmals in Donaueschingen auftrat und damit die Insider aufschreckte. Das Kategoriensystem geriet durcheinander, das Label „neue Musik“ verlor an Glanz.

Neuerdings nagen auch politische Kräfte wie der aggressive Antikolonialismus am Selbstbewusstsein der deutschen Macher. Die Veranstalter versuchen sich anzupassen, indem sie überhastet außereuropäische Musik programmieren und dabei durch Zuwendungen aus den Kulturtöpfen der auswärtigen Politik in die richtige Richtung gelenkt werden. Die Reflexion über einen vernünftigen, langfristigen Dialog und vor allem über die eigene Position im Streit um Reizbegriffe wie Kulturelle Aneignung bleibt dabei auf der Strecke.

Doch auch hier hatte die IGNM einst die Nase vorn. In der unaufhaltsamen Globalisierung des europäischen Musikschaffens erwies sie sich als ein Schrittmacher. Bereits 1924 entstand eine argentinische Sektion, und weitere folgten in allen fünf Erdteilen, wenn auch nicht alle überlebten. Die Rückwirkungen auf die neue Musik in Old Europe wurden innerhalb der IGNM lebhaft diskutiert, und das vom Kölner Verlag MusikTexte im Auftrag der IGNM von 1991 bis 2004 in englischer Sprache herausgegebene World New Music Magazine gab den neuen Stimmen erstmals ein angemessenes Forum.

Weltmusiktage fanden unter anderem schon in Hongkong, Seoul, Mexiko, Yokohama und Beijing statt, alles westlich beeinflusste Metropolen. Afrika war bisher eine musikalische Terra incognita. Die IGNM Weltmusiktage 2023 sollen sie nun erstmals in Johannesburg und Soweto über die Bühne gehen. Es ist ein Schritt ins Ungewisse. Danach wird vielleicht das, was wir auf den Spezialfestivals für neue Musik Jahr für Jahr hören, plötzlich nicht mehr so neu erscheinen.

Eine kürzere Printfassung ist am 11.8.2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.