European Song Contest und Politik

And the loser is: Germany. Zum zweiten Mal in Folge hat die famose deutsche Auswahljury für den European Song Contest eine junge Sängerin verheizt. Vor einem Jahr holte im trostlosen schwarz-weißen Bühnendesign eine gewisse Ann Sophie mit einem eintönigen Song null Punkte, und nun folgte ihr das Schulmädchen Jamie-Lee aus Hannover. Es kam immerhin auf elf Punkte, ein gewaltiger Fortschritt. Letzter Platz war es trotzdem.

Die verlorene Einzelmaske konnte einem leid tun, wie sie da auf der großen Bühne herumlief und das bunte Gemüsebouquet, das man ihr auf den Kopf geschnallt hatte, spazieren führte. Leider ist sie auch gesanglich noch etwas unterentwickelt: piepsige Stimme und hörbar kurzatmig. Immerhin, mit ihren achtzehn Jahren zeigte sie Mut und gibt zu Hoffnungen Anlass. „Ich hatte eine unglaublich geile Zeit, das Team war mega“, war ihr Fazit hinterher. Sie steckte die Pleite offenbar lockerer weg als die Offiziellen, die sie ihr eingebrockt hatten. „Irgendwas machen wir falsch“, jammerte ein Verantwortlicher hinterher in der Live-Show von der Hamburger Reeperbahn, und die hektische Showmasterin Barbara Schönenberger quirlte die schlechte Nachricht noch zu Schaum, indem sie unablässig beteuerte, sie könne das nicht verstehen, wo doch alles so toll gewesen sei.

Die für den deutschen Beitrag zum European Song Contest Verantwortlichen beim Hamburger NDR haben offenbar keinen Riecher für das, was die Leute hören wollen. Ein ARD-Syndrom? Oder ist das musikalische Entertainment, anders als der Autobau, einfach keine deutsche Vorzeigedisziplin? Die peinlich uninspirierte Open air-Show von der Reeperbahn schien das zu bestätigen: missratene Interviews, eine Sängerin, die ständig am Knopf im Ohr herumfummelt, und dazu der Gesangstext „Du verstehst mich ja nicht“. Loriot im Realitätstest. Das triste Regenwetter lieferte die passende Kulisse dazu.

Merkwürdig: Da macht sich die deutsche Regierungschefin mit ihrer Flüchtlingspolitik grenzenlos beliebt, aber wenn es um Musik geht, dann wenden sich die Völker demonstrativ von Deutschland ab. Die Sympathien liegen anderswo. Über den polnischen Beitrag, gewiss ein etwas ausladender hymnischer Gesang, machte sich der ARD-Kommentator lustig, doch er landete immerhin auf Platz acht. Bei der ersten Bewertungsrunde, in welcher die professionellen Länderjurys ihre Punkte abgaben, hatte er knapp vor Deutschland noch auf zweitletzter Stelle gelegen. Bei der zweiten Runde mit den Voten der Zuschauer sprang er dann um siebzehn Plätze nach vorne. Das Publikum tickt offenkundig anders als die Fachleute in den Medien. Bei ihnen spielen vermutlich irgendwelche schlauen Strategien und vielleicht auch Stück institutionelle Blindheit eine Rolle, wohingegen die Zuschauer einfach das wählen, was ihnen spontan gefällt.

Der polnische Barde war eingerahmt von einem sportlichen Litauer und von der sexy Armenierin Iveta Mukuchyan; auch sie machten beim Publikumsvotum einen Riesensprung von den hinteren Plätzen nach vorne, ebenso Bulgarien. An dritter Stelle stand der hoch professionelle Sergey Lazarev aus Russland. Die Osteuropäer mit ihren lebensnäheren Themen, den kraftvollen Stimmen und der direkten Körpersprache wirken überzeugender als die Wessies, die ihren perfekt einstudierten Part mit gespielter Emotion absolvieren. Dass Frankreich nach langer Zeit wieder einmal unter den ersten Zehn war, verdankt sich vermutlich der rauhen Stimme des Sunny Boy mit dem unfranzösischen Namen Amir.

Erfrischend und in Sachen Professionalität ebenso maßstabsetzend wie der Russe war der Beitrag des Gastlandes Australien, das lange als Sieger aussah, aber dann nur den zweiten Platz holte. Ansonsten viel belanglose Weicheierpoesie, die durch eine hyperaktive Videoregie so penetrant mit Bedeutung aufgeladen wurde, dass es einem schwindlig werden konnte. Eine bemühte Glitzerfassade und nichts dahinter, passend zum aktuellen Zustand des Kontinents. Scharf kontrastierte dazu der siegreiche Beitrag der Ukraine mit dem Titel „1944“, ein dramatisches Klagelied über die Deportation der Krimtataren unter Stalin. Die ESC-Verantwortlichen hatten das Lied zugelassen mit der Begründung, es habe nichts mit Politik zu tun. Das stimmt natürlich nicht. Es war ein willkommener Fußtritt gegen Putin und bekam prompt viele Stimmen aus Ländern, die sich heute wieder von Russland bedroht fühlen. Auf der anderen Seite erhielten die Russen volle Punktzahlen unter anderem aus Griechenland und Zypern – war da nicht mal was mit Bankenkrise?

Sage noch einer, Musik sei unpolitisch. Auch der am Rande des Kitschs entlangsegelnde European Song Contest spiegelt Gegenwart und entzweit damit die Gemüter. Dass der Normalzuschauer die Sensibilität auch für kontroverse Themen aufbringt, stimmt eigentlich optimistisch. Doch was machen die braven NDR-Unterhalter? Sie schicken ein grotesk dekoriertes Schulmädchen ins Rennen. Irgend etwas machen sie wirklich falsch.

Max Nyffeler

Juni 2016

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