Klassik global: Der Musikfilm auf Expansionskurs

Zu den aktuellen Trends in Fernsehen, Streaming und DVD

Abbado dirigiert Mahler (Accentus)Mit schöner Regelmäßigkeit ist zu hören, die Ton- und Bildtonträger CD und DVD stünden am Abgrund, das Musikgeschäft und gerade auch der Musikfilm verlagerten sich immer mehr in den Streamingbereich. Das stimmt insofern, als die Generation der digital natives tatsächlich Smartphone und Computer der stationären Abspielanlage zu Hause und dem TV-Bildschirm vorzieht. Es gilt aber vor allem für den Popbereich, wo mobile music, die allgegenwärtige Verfügbarkeit und Mitnahme der Inhalte, an erster Stelle steht. Bei der Klassik ist es noch anders. Wer will in der Straßenbahn auf seinem iPhone eine Verdi-Oper sehen oder auch nur hören? Ein Minimum an Zeit und Ruhe ist noch immer unabdingbar, selbst wenn auch Klassik längst zu einer Angelegenheit des „Begleitradios“ geworden ist. Und beim Musikfilm geht es nun einmal nicht ohne Hinsetzen und Hinschauen.

Ein zweiter Megatrend ist die Verlagerung des Musikkonsums vom reinen Hören zur audiovisuellen Wahrnehmung. Darin unterscheidet sich der Klassikbereich nur graduell vom Pop. Immer mehr Konzerte werden auch visuell aufgezeichnet, bei der Oper bietet sich das ohnehin an. Persönlichkeitsinterviews mit Interpreten sind beliebt, Proben- und Backstage-Aufnahmen bereichern die bloße Wiedergabe einer Aufführung im Musikfilm, und trotz höherem Kostenfaktor gibt es immer wieder die Vermittlung von qualifiziertem Wissen über Werk und Interpretation durch gut gemachte Dokumentationen.

Insgesamt läuft das Musikfilmgeschäft gut, der Markt expandiert in kleinen Schritten und in globalem Maßstab. Bei der vom IMZ, dem Internationalen Musik- und Medienzentrum Wien, organisierten Avant Première in Berlin konnte man sich nun wieder davon überzeugen. Während der viertägigen Fachmesse der internationalen Produzenten, Vertriebe und TV-Stationen wurden diesmal rund fünfhundert Neuproduktionen vorgestellt und vermarktet, Tendenz steigend.

Der Musikfilm in den weltweiten Vertriebskanälen

Eine Opernaufnahme mit allen Produktionskosten und Rechten ist heute kaum unter dreihunderttausend Euro zu haben. Das Geld zur Finanzierung von so aufwendigen Produktionen lässt sich durch eine einmalige TV-Sendung und einen DVD-Verkauf natürlich nie hereinholen. Es kommt woanders her: Neben der traditionellen Art der Koproduktion mit mehreren Sendern ist dies heute zunehmend der Vertrieb in den weltweiten Satelliten- und Kabelkanälen und im Internet gegen Bezahlung. Da läppert sich einiges zusammen. Die Vertriebsnetze sind in den letzten Jahren sprunghaft gewachsen, und da dies in jedem Land nach anderen kommerziellen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichen Anbietern geschieht, nimmt der Markt mehr und mehr Züge eines extrem verästelten Netzwerks an.

Wer sich darin nicht auskennt und nur Bauchnabelschau betreibt, bleibt auf seinen Produkten sitzen. Dieses Schicksal könnte der italienischen RAI drohen, die unverdrossen die neuen Opernproduktionen aus Mailand, Venedig oder Rom, konventionell und mit allem zugehörigen Prunk produziert, anbietet. Die erhoffte Wirkung dieser Art von durchschnittlicher europäischer Exotik auf ein fernöstliches Publikum dürfte sich in Grenzen halten.

Ein Unternehmen wie die Münchner Unitel, die auf einem riesigen Schatz von Musikfilmen von den frühen Karajan-Zeiten bis heute sitzt, muss in der Lage sein, alle diese verästelten Kanäle zu erreichen, wie Thomas Hieber, Head of Business and Legal Affairs, erläutert: „Es gibt nicht mehr die zwei Kunden, mit denen man eine Produktion finanziert. Die Welt ist komplizierter und diversifizierter geworden. Es funktioniert nur noch, wenn man ständig kreativ bleibt.“ Zu den jüngsten Aktivitäten von Unitel gehört das Video-on-Demand-Portal „fidelio“, ein Joint Venture mit dem ORF Wien, wo man als Abonnent Opern und Konzerte in HD-Qualität anschauen kann, und eine neue Partnerschaft mit Vertragspartnern in Kanada. Einzelproduktionen und Pakete werden wie bisher an die öffentlich-rechtlichen Anstalten oder neuerdings auch Sky Arts verkauft, und bei Arte stehen auf der Internetseite „Arte Concert“ regelmäßig ganze Unitel-„Serien“. Die Verträge sind von Fall zu Fall anders. „Wir freuen uns über jede neue Möglichkeit“, sagt Hieber, „das bringt einfach die Performing Arts näher an das Publikum heran.“

Das einstige Erfolgsmedium DVD im Streaming-Sog

Aber wie steht es eigentlich mit der DVD und ihrem Nachfolgemedium, der Blu-ray Disc? Sie ist das Medium, an das der normale Klassikkonsument als erstes denkt, wenn von Musikfilm die Rede ist. Als die DVD um 1997 auf den Markt kam, nahm interessanterweise die Klassik eine Pionierrolle ein, übrigens genau so wie bei der Einführung der CD; Rock und Pop eroberten das Medium später. Im Laufe eines Jahrzehnts stiegen die Verkaufszahlen der DVD steil nach oben, aber mit dem Aufkommen von Smartphone und Streaming kam der ebenso steile Abstieg. „Heute verkaufe ich noch einige tausend Exemplare pro Titel“, sagt Ben Pateman, Chef des gut eingeführten Klassiklabels Opus Arte, „aber das genügt mir, ich schreibe schwarze Zahlen.“

Opus Arte wurde zu Beginn der DVD-Ära vom Holländer Hans Petri als Qualitätslabel für Oper und Konzert gegründet und ein Jahrzehnt später an das Londoner Royal Opera House verkauft, das damit seine eigene Medienstrategie begründete; heute ist das ROH auch im weltweiten Streaminggeschäft engagiert und konkurrenziert hier andere große Häuser wie die Met, die Scala, die Wiener Staatsoper oder die Opéra Paris.

Für Opus Arte ist die Situation insofern etwas leichter als bei freien Labels, als es zumeist – nicht ausschließlich – auf das Repertoire des eigenen Hauses zurückgreift, was die Frage der Rechte schon einmal entschieden vereinfacht und auch die Suche nach Koproduzenten großenteils erübrigt. „Wir bedienen den sogenannten Boutique-Markt“, erläutert Pateman sein Geschäftsmodell. „Unsere Kunden sind wohlhabend, gebildet und anspruchsvoll und haben zu Hause ihre High-End-Anlage. Sie erwarten ein gut ediertes Qualitätsprodukt mit soliden Begleitinformationen und sind dann auch bereit, Premiumpreise zu zahlen. Sie schreiben zwar E-Mails, sind aber an den digitalen Medien nicht weiter interessiert, denn sie brauchen sie nicht.“

Das Alter der Kunden von sechzig Jahren und mehr macht Pateman keine Sorgen. „Das ist ein absolut treues Publikumssegment, und es wachsen laufend neue Sechzigjährige heran.“ Irgendwann wird auch die DVD das Zeitliche segnen, darüber macht er sich keine Illusionen. Aber in die Totengesänge kann er nicht einstimmen. Er gibt dem Medium noch mindestens fünf bis zehn Jahre, bis es endgültig vom HD-Streaming verdrängt sein wird. Er bedauert allerdings, dass die Blu-ray Disc nicht die Nachfolge der DVD antreten konnte; sie sei etwas zu spät am Markt erschienen, als schon das HD-Streaming in den Startlöchern stand.

DVD und Blu-ray, das problematische Doppelpack

Das in Leipzig beheimatete Label Accentus hat ein ähnliches Premiumprofil; doch als freies Produktionsunternehmen ist es auf Koproduktionen angewiesen. Auch für Accentus-Chef Paul Smaczny hat die DVD ihre fetten Jahre hinter sich. „Das Geschäft ist auch deswegen schwierig geworden, weil man neben der DVD stets noch die Blue-ray mitproduzieren muss, was die Herstellungskosten verdoppelt“, sagt er. „Das Publikum in Europa ist merkwürdigerweise nie richtig auf die neuen Blu-ray-Player umgestiegen, obwohl jeder seinen HD-Fernseher zu Hause hat. Umgekehrt werden von den technikaffinen Kunden in Japan oder Südkorea nur noch Blu-ray Discs gekauft.“

Konnten in den Nullerjahren noch leicht 30.000 Exemplare eines DVD-Titels abgesetzt werden, so ist nun seit einigen Jahren die Kannibalisierung durch die Videoportale im Gang. Sie bieten Streaming auch in DVD-Qualität an, etwa Netflix, das innerhalb von zehn Jahren weltweit einen Stamm von 93 Millionen Abonnenten aufgebaut hat, oder neuerdings eben auch ORF-„fidelio“ oder Maxdome, ein Videoportal von ProSiebenSat.1 Media.

Smaczny reagierte auf diese Marktveränderungen mit einer Konzentration auf die Inhalte und einer Schärfung des Profils: Keine ziellosen Einzelproduktionen, sondern Serien und eine klare Programmatik; nicht die x-te prominent besetzte „Bohème“, sondern kontinuierliche Zusammenarbeit mit namhaften Partnern. Beim Lucerne Festival hat Accentus alle Mahler-Sinfonien mit Abbado aufgenommen und die Aufnahmen nun mit Chailly fortgesetzt.

Auch das Gewandhaus ist eine feste Adresse, und mit Zubin Mehta ist eine neue Porträtserie unterwegs. Heute veröffentlicht das Label rund zehn DVD-Titel pro Jahr, neuerdings auch dieselbe Anzahl von CDs, alles hauseigene Produktionen. Doch der wichtigste Markt für den Musikfilm ist auch für ein Unternehmen wie Accentus das internationale Fernsehen geworden, sei es terrestrisch, über Kabel, Satellit oder Internet. CD und DVD sind nur noch die Endprodukte einer langen Verwertungskette.

Nach Auskunft von Smaczny lassen sich hochwertige Dokumentationen heute besser verkaufen als früher, und er nennt das berührende Porträt der chinesischen Bach-Interpretin Zhu Xiao-Mei. Überhaupt Dokumentationen: Bei der Berliner Avant-Première wurden erfreulich viele davon vorgestellt, sogar solche über zeitgenössische Musik, was finanziell immer ein Risiko darstellt.

Dazu gehören eine mit viel unveröffentlichtem Material versehene Dokumentation über Pierre Boulez oder das einstündige Feature „The Life and Death of Walter Benjamin“, das sich um die in Lyon uraufgeführte Oper „Benjamin. Dernière Nuit“ von Michel Tabachnik rankt. Der Librettist, kein Geringerer als der Kolonialismuskritiker und Ex-Guerillakämpfer Régis Debray, kommt vor der Kamera ausführlich über den Philosophen zu Wort.

Benjamin. Dernière Nuit", Oper von Michel Tabachnik
Still aus der Aufzeichnung der Oper „Benjamin. Dernière Nuit“ von Michel Tabachnik. © Stofleth

Die DVD und ihr Nachfolgemedium Blu-ray Disc haben zweifellos ihre besten Zeiten hinter sich, was den klassischen Musikfilm angeht. Doch falls sie auch solche Produktionen, die zunächst einmal in den internationalen TV-Kanälen auf den Markt kommen, noch stemmen sollten, hätten sie ihre Daseinsberechtigung noch lange nicht verspielt.

Max Nyffeler

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